Aufzeichnungen zu einem Ortswechsel

Walter Pichlers Werk, von einem inhärenten Spannungsverhältnis von Architektur und Skulptur geprägt, beschäftigt mich, wenn ich mich recht erinnere, seit der ersten Stunde, als er dieses, sein Werk, in die Welt, in seine Welt setzte.


Derartige Gedanken begleiteten mich beim jüngsten Besuch in St. Martin im Südburgenland, dort wo Walter Pichler, einer der maßgebenden Künstler unserer Zeit, einen einzigartigen Ort der Kunst, bestehend aus einer Vielzahl von im Laufe der letzten vierzig Jahre eigens für seine Skulpturen erbauten Baukörper, die wie kleine Tempel anmuten, ein „Gesamtkunstwerk“ geschaffen hat.

Und natürlich, so hat es den Anschein, gelingt es dem Künstler, den Betrachter gerade dort in den Bann seines ganzheitlichen Weltbilds zu ziehen. Seine Werke sind Teile, sind Akteure eines Gesamten, das ihnen Einzigartigkeit verleiht, sie nicht austauschbar macht. Wie Individuen entfalten sie in dem Raum, an dem Ort, der ihrer ist, ihr Selbst. Pichler fordert für seine Arbeiten, was für Kunstobjekte ungewöhnlich zu sein scheint, Identität. Er verleiht sie ihnen, indem er ihnen nicht nur Rollen, wie beispielsweise die von „Beschützern“, zuschreibt, sondern sie in Orte bettet, für sie Welten schafft.

Vielleicht ist es auch der Versuch, das Geheimnis dieses fein gegliederten, aber dennoch machtvollen Bezirks zwischen Skulptur, Architektur und Lebensbehauptung neu zu deuten: Ich persönlich habe mich dazu in das nördliche Burgenland zurückgezogen, nichts ahnend, aber natürlich wissend, mich hier wieder den deutlichen Spuren von Walter Pichler nicht entziehen zu können. Auf diesem Grundstück zwischen Weingärten, Weinkeller und einem traditionellen Steinbruch, wo ich meine „Grube“ gebaut und Walter Pichler seine Skulptur „Die Sitzgruben“ (1970) errichtet hat, haben „wir“ uns wider gefunden, an dem Ort da-zwischen Skulptur, Natur und Architektur. Doch im Grunde handelt es sich nicht nur um Zwischenraum, sondern vielmehr um Freiraum, da es uns gelungen ist, uns genau hier zu verorten. 

Es gehört zu den Eigenheiten von Walter Pichler, mit öffentlichen Darstellungen, Präsentationen und Ausstellungen seiner Arbeit äußerst bedacht und sparsam in der Anzahl umzugehen. Pichler überlegt, plant und setzt sich intensiv auseinander, bevor er ein Ausstellungsprojekt in Angriff nimmt. Ich erinnere mich, die Ausstellung „Skulptur: Walter Pichler“ (1990/91) war bereits ein unverrückbarer Fixpunkt meiner Museumsarbeit, als ich 1986 zum Direktor des MAK (damals noch Österreichisches Museum für angewandte Kunst) bestellt wurde. Und es war keine Ausstellung im üblichen Sinn. Pichler hat den Ort des Museums als neue Herausforderung räumlicher und gedanklicher Durchdringung angenommen. Er schlitzte Wände, baute massive Sockel aus Ziegel und Beton, zog eine Achse durch die zentrale Ausstellungshalle, durch das gesamte Gebäude, und errichtete im Museumsgarten ein temporäres „Haus für das Kreuz“. Dieses Ausstellungsprojekt wurde im Vorfeld von jahrelangen Gesprächen und Auseinandersetzungen mit dem Künstler und mir begleitet.

Pichler, dessen Ausgangspunkt die Architektur war, der – wie erinnerlich – in den frühen 1960er Jahren mit einem provokanten Aufschrei für eine neue Architektur eintrat, dessen Projekte wie etwa „Kern einer unterirdischen Stadt“* kühne, kraftvoll und mächtig wirkende Architekturutopien für heutige Studenten an der Columbia, SCI-Arc, Cooper Union oder Shanghai University nach wie vor eine besondere Herausforderung darstellen, ist es gelungen, diesen Ort zu definieren, dem Ort eine bleibende Signifikanz zu verleihen und, wie er es für seine Arbeiten tut, Identität zu stiften.

Mit dem „Tor zum Garten“, einem eigenständigen Bauwerk und untrennbaren Teil eines Ganzen zugleich, hat er eine Skulptur geschaffen, die in die historische Bausubstanz des Museums überzeugend und mit großem Einfühlungsvermögen eingreift, Architektur und Skulptur zu einer Einheit werden lässt und noch mehr – Museum und Kunstwerk untrennbar aneinander schweißt. Er schafft nicht nur ein autonomes Werk, sondern eröffnet ein Tor für die Kunst. Heute, nach über zwanzig Jahren, hat das „Tor“ nichts an Frische, Aktualität und solitärer ästhetischer Kompetenz eingebüßt.


Dieses entstand also 1990. Walter Pichler ist mittlerweile durch Zeichnungen und Objekte in der MAK-Sammlung Gegenwartskunst vertreten. 
„Walter Pichler. Skulpturen Modelle Zeichnungen“, die letzte von mir in meiner EigenART als MAK-Direktor initiierte Ausstellung, erklärt sich auch durch das Bewusstsein um die Verantwortung, die es für eine Kunstinstitution bedeutet, Künstler kontinuierlich und kompromisslos auf ihrem Weg zu begleiten.
In Walter Pichlers Welt der Einheit von Skulptur und Architektur geht es nicht mehr um Grenzüberschreitung von Disziplinen. Für Walter Pichler ist diese Einheit längst – wenn nicht immer schon – selbstverständlich. Seine Skulpturen sind Teil eines Ganzen und erdulden die Fragmentierung, eine Herausschälung aus ihrem Gesamten nur schwerlich. Seine Skulpturen akzeptieren keine wechselnden Besitzer, sie gehören zu Walter Pichler wie er zu ihnen. Den Verführungen und Diktaten des (Kunst-)Marktes sich weitestgehend zu verweigern, ist die Konsequenz dieser Einheit. 
Auch akzeptieren seine Werke keinen beliebigen Ausstellungsort, sondern Pichler fordert für sie gleichsam wie für Menschen einen Ort, innerhalb dessen sie ihrer Subjektivität, ihrer Ganzheitlichkeit belassen werden. Das MAK ist dieser Ort des Seins für das „Tor im Garten“, so wie die Gebäude der Ort des Seins für seine Skulpturen sind. Sie sind verwurzelt und verankert in einer konsequenten Vision, die mehr zu umfassen vermag, als viele von Walter Pichler zu begreifen vermögen. 

Pichler hat für seine Kunst begriffen, was Museen herausgefordert sind zu begreifen, dass die Kunst im Zentrum des Museums steht und der Mensch im Zentrum der Kunst. Kunst darf nicht zum Objekt der Analyse einer Institution verkommen, rein als „Position“ des kulturellen Erscheinungsbildes präsentiert werden. Pichlers Skulpturen erheben Anspruch auf Subjektivität, auf Menschsein. Sie finden sich nicht damit ab, als Kunstmarktware gehandelt zu werden, sie hören nicht auf, ihren Raum zu fordern. Museen müssen der Herausforderung gerecht werden, als Orte des Seins für Kunst zu fungieren und jenen Anspruch ebenso für seine Künstler wie für seine dort wirkenden und besuchenden Menschen geltend zu machen. Von einem Museum fordert Walter Pichler für seine Skulpturen nicht weniger, als er für sich fordert: Eine Kunstinstitution, die ihn begleitet, nicht interpretiert. Er fordert Kongruenz, Kommunikation auf der Ebene des Interesses, sicherlich des Respekts, aber auch der Leidenschaft, unabhängig vom sogenannten guten Riecher für den Kunstmarkt. Als Museum – wie es das MAK mit Erfolg seit über 20 Jahren beweist – einem Künstler zu folgen, bedeutet mehr als Loyalität, es ist ein Glaubensbekenntnis. Es bedeutet Einsatz für die Vision des Menschen hinter der Kunst und die Kunst hinter dem Menschen. Diesen Einsatz lebt uns Walter Pichler beeindruckend wie nur wenige vor.

So wie Walter Pichler für seine Skulpturen Häuser beansprucht, fordert er Museen für sie ein, eines wie das MAK, das den Weg gewählt hat, sich nicht Objekten oder „Positionen“ zu widmen, sondern Kunst und Künstlern konsequent Raum zu geben. In den Augen Walter Pichlers scheint das MAK für seine Skulpturen ein Ort des Seins und des Verweilens, und das erfüllt mich persönlich mit großer Freude.

Peter Noever
August 2011

*) Ausstellung „Hollein – Pichler – Architektur. Work in Progress“, Galerie nächst St. Stephan, Wien 1963